Satelliten

2008,

Künstlerhaus Dortmund

Museum am Ostwall
Dortmunder Kunstverein
Ev. Stadtkirche St. Petri

 

 

 

Fake und Fakt

Peter Schmieder

Als Mata Hari zu Beginn des vorigen Jahrhunderts ihre Karriere als Tänzerin begann, beglaubigte sie ihre exotische Kunst durch eine erfundene Kindheit auf Java und eine erdachte orientalische Abstammung, vorgetragen in vielen verschiedenen Versionen. Dass Mata Hari auch als Spionin arbeitete und ihre Legende ihr dabei hilfreich war, ist bekannt. Spätestens seit jener Zeit verbindet sich die Profession des Spions mit einer guten Legende. Die Künstlergruppe „Die Weissenhofer“ verfügt ebenfalls über eine solche Legende. Welche Funktion diese Legende im Kontext der Bildenden Kunst hat, das sei hier kurz skizziert.

Seit 1995 gibt es die Gruppe der „Weissenhofer“, heute bestehend aus den drei Protagonisten Beckmann, Mandernach und Schäfer. In kontinuierlicher Ausstellungstätigkeit legt die Gruppe ein umfangreiches Werk vor, das bei aller Eigenständigkeit der Positionen Platz für Anregungen, Bezüge, Assoziationen, Anspielungen und Referenzen untereinander einräumt. Die theoretische Fundierung der „Weissenhofer“ lässt sich auf ihre knappe Formulierung konzentrieren, es werde die Absicht verfolgt, eine moderne gegenständliche Kunst mit assoziativ-erzählerischem Charakter zu erarbeiten. Im Vergleich mit dieser programmatischen Kürze nimmt die von den Künstlern selbst entwickelte Erzählung ihrer Herkunft ungleich breiteren Raum ein, überdeckt jede Programmatik und ist doch ein erster literarischer Beleg für das erzählerische Vorhaben der Künstler.

Eine erfundene Biografie beschreibt den Lebensweg der Weissenhofer als den von drei Brüdern, die aus der Schweiz nach Texas emigrieren und wieder zurück nach Europa kommen. Seit frühester Kindheit hat sich ihre künstlerische Begabung erfolgreich Bahn gebrochen, die Weissenhofer-Erzählung strotzt vor Erfolgsrhethorik. Einziger Rückschlag und zugleich Projektionsfläche bildnerischen Gestaltens ist der abgebrannte Hof, Geburtsort einer Legende.

Mit dieser Kurzfassung ist nur wenig von dem Potential und wenig von dem humorigen Grundton angedeutet, den die Künstler dieser erfundenen gemeinsamen Biographie abgewinnen. Für die Dortmunder Ausstellung „Die Weissenhofer – SATELLITEN“, kooperieren das Künstlerhaus Dortmund, das Museum am Ostwall, der Dortmunder Kunstverein und die Evangelische Stadtkirche St. Petri. Während an drei Außenstationen (Satelliten) jeweils die Arbeit eines Gruppenmitglieds als Einzelausstellung präsentiert wird, zeigt die Gruppe im Künstlerhaus unter anderem „die aus dem abgebrannten Weissenhof geretteten, verkohlten Objekte und Großfotos mit Szenen ihrer Jugend.“

Anzunehmen, mit der Konzentration auf eine Legende, mit der Konzentration auf die (erfundenen) Viten der Brüder vom Weissenhof beschränkten sich die Künstler auf Unverbindliches, griffe zu kurz. Vielmehr trägt die Erzählung der Herkunft, trägt die Weissenhofer-Legende Züge eines Manifestes, zwar nicht formal, wohl aber von der Stoßrichtung her. Mit der Textgattung des Manifests schuf der italienische Futurismus die formalen literarischen Voraussetzungen für die Äußerungen von Künstlergruppen. In der Folge haben Brücke, ZERO und Fluxus, um nur einige zu nennen, dieser Form vertraut, um dem disparaten künstlerischen Treiben ein inhaltliches Fundament zu geben. Individuen wurden zu Mitstreitern, Kunst stand im Dienst einer Idee. Hand in Hand mit dieser inhaltlichen Selbstvergewisserung ging die Deklaration des künstlerischen Territorialanspruchs.

Mittlerweile lässt sich behaupten, dass an die Stelle des künstlerischen Manifestes der Trend getreten ist. Dieser wird aber eben nicht mehr von den Künstlern selbst formuliert, sondern von Kuratoren, Kritikern und Händlern als den Verwertern ausgerufen. Häufig genug wird ein Trend nicht einmal mehr inhaltlich gefasst, sondern besteht aus der Deklamation der zu verwendenden Techniken. Wo sich also Inhalte als individuelle Setzungen definieren müssen und die Entwicklung der zeitgenössischen Kunst als Fruchtfolge der Gattungen beschrieben werden kann, dort entsteht auch der Freiraum für den Rückgriff auf eine noch ältere literarische Form der Kunstgeschichte: die Künstlerlegende. Womöglich ist aber auch der gezielte Einsatz der Fiktion ein notwendig ergriffener Ausweg. Die Weissenhofer jedenfalls arbeiten seit über zehn Jahren an der Formulierung und Zementierung dieser Legende.

Nimmt man die Viten des Vasari als einen formalen Ausgangspunkt und als Anregung der Künstlerlegende an, so darf zunächst festgestellt werden, dass jener über Individuen schrieb. Am Beginn der Neuzeit wird von Vasari so einerseits die Vereinzelung des Künstlers beschrieben, gleichzeitig setzt er so die positive Vorstellung des schaffenden Individuums frei und ebnet damit den Weg zur Idee vom Genie. Bei genauer Lektüre von Vasari, aber auch antiker Autoren, wird ersichtlich, dass formelhaft  Motive wie die frühe Entdeckung des Talents oder das beiläufige Zeichnen der bäuerlichen Umgebung als mythenbildende Versatzstücke wiederholt genutzt werden. Die Belege für diese Motive bleiben die Autoren schuldig, das gilt auch für die Weissenhofer. Allerdings ist die Weissenhofer-Legende vor einem solcherart aufs Individuum gemünzten historischen Hintergrund ein mehrfacher Kunstgriff.

In der Literatur ursprünglich auf den Einzelkünstler gemünzt, nutzen die Weissenhofer die Legende für sich als Kollektiv. Die in die Erzählung wie auch in die Ausstellungen eingestreuten musikalischen Versatzstücke deuten an, dass so eine Mischform zwischen der Legende vom bildenden Künstler und der Legende einer Rockband entsteht. Mit dieser Referenz an Hochkultur und Popkultur, „High and Low“, setzen die Weissenhofer eine Kettenreaktion von Gegensatzpaaren in Gang. Ihre als ländlich beschrieben Herkunft kontrastiert mit der Namensgebung der Gruppe, die sich als Reverenz an den Internationalen Stil der Weissenhofsiedlung in Stuttgart lesen lässt (Sitz der Kunstakademie). Mit den genannten Begriffen lassen sich wiederum kunsthandwerklich-bäuerliche und planerisch-intellektuelle Tätigkeiten kontrastieren. Sich als Brüder zu benennen, ist sowohl Bezeichnung eines malerdynastischen Verwandtschaftsgrades als auch Anspielung auf die Zugehörigkeit zu einer (Maler-)Gilde. Im zeitweiligen Aufenthalt der Brüder in Texas und der hinterwäldlerischen Wallis-Legende verbinden sich Alte und Neue Welt. Deren Beschreibung freilich fällt prämodern aus – die Schweiz der Weissenhofer ist die Schweiz vor Segantini und Hodler, die USA und hier speziell Texas sind für die Weissenhofer die Projektionsfläche von Kinderträumen, wie sie die sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts bereithalten. Mit dieser Haltung entkräften die Weissenhofer jedweden Einwand gegen ihre Legende, bevor er überhaupt aufkommen kann: sie legitimieren ihre Erzählung und ihr Tun als Spiel.

Dieses Spiel mit der Identität, dem sich die Weissenhofer hingeben, erzeugt die psychische Entlastungsfunktion, die mit dem Einnehmen anderer Rollen einhergeht. Die künstlichen Identitäten der Brüder Bob, Keith und Carl nutzen die Künstler zur Entlastung von Zwängen, beispielsweise dem Zwang, gesellschaftlichen Erwartungen an Künstlerindividuen entsprechen zu müssen. Gleichzeitig wird durch diese Entlastung erhebliche kreative Energie freigesetzt. Die Künstler wenden, durch das fast karnevaleske Verfahren, durch das Aufsetzen eines anderen Hutes zugleich gewandelt und gestärkt, ihre Aktivitäten ohne falsche Scheu und ungebremst von Rücksichten ganz einander zu. Sie befördern so den angestrebten erzählerischen Fluss, wie er im Kinderspiel selbstverständlich ist. Dies ist aber nicht als Regression zu verstehen, sondern vielmehr als emotionale Freisetzung, die es ermöglicht, im fake der Vita die zentrale Frage nach Kunst als Fiktion generell aufzuwerfen. Die fake-Legende beschreibt elementare künstlerische Anliegen: das Bild als Bild zu begreifen, als Gemachtes mit eigener Realität, als Form gewordenes Denken.

So wird über den weitgehenden Verzicht auf ein Manifest zugunsten der Erzählung, im Wege der Parodie der Künstlerlegende ein Freiraum eröffnet, in welchem sich die Arbeit der Künstler an immer neue Kreativitätsschübe rückkoppeln kann. Er entsteht mit dem Anspruch auf ein Gesamtkunstwerk, in dem sich in den Werken der Einzelnen Facetten abbilden, die gemeinsam gesehen, ein größeres Ganzes ergeben, das, wiewohl humorig fundiert, dennoch ein ernsthaftes Abbild der Künstlergruppe ist.